Wenn wir über Sprachenvielfalt in Europa reden, meinen wir damit eine Vielfalt von offiziellen und nicht offiziellen Sprachen in Europa sowie regionaler Dialekte. Dies gilt als einer der reichsten und wichtigsten kulturellen Schätze Europas und ist ein wesentlicher Bestandteil des sozialen Erfolgs der europäischen Gesellschaft.

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Sprachenvielfalt in Europa


europäische Srachenvielfalt© picture alliance

Europa ist ein recht kleiner Kontinent, wenn man ein paar Stunden fährt, ist man in einem anderen Land. Das merkt man in aller Regel auch daran, dass dort eine andere Sprache gesprochen wird. Deutschland hat neun direkte Anrainerstaaten und wer sich in allen Nachbarländern unmittelbar verständigen können will, muss schon ein ziemliches Genie sein und so unterschiedliche Sprachen wie Polnisch, Tschechisch, Französisch und Dänisch beherrschen. Wer hingegen von der Nordspitze Kanadas bis nach Feuerland im Süden Lateinamerikas reist, muss lediglich Englisch und Spanisch sprechen (dabei allerdings einen Bogen um Brasilien machen, in dem Portugiesisch geredet wird). Da die meisten Menschen bei uns keine bis zwei Fremdsprachen sprechen, ist man in Europa oft darauf angewiesen, sich "mit Händen und Füßen " zu verständigen. Diese Körpersprache gibt es auch und in verschiedenen Situationen, vom Flirt bis zur Suche nach einem Hotel, kann sie sehr nützlich sein - aber für komplexe Situationen ist sie nicht ausreichend.

Schon im 19. Jahrhundert haben sich Menschen darüber Gedanken gemacht, wie man mit der Vielsprachigkeit in Europa umgehen könne. Durch die Unabhängigkeitsbewegungen, die zu neuen Nationalstaaten mit neuen - identitätsbildenden - Nationalsprachen führten, wurde die sprachliche Vielfalt ja deutlich größer. Zwar gab es die Sprachen, die nun den neuen Staaten als Kommunikationsmittel und ideologischer Kristallisationspunkt galten, bereits vorher, aber ihre Bedeutung nahm zu und die der "linguae francae", also der Universalsprachen, reduzierte sich entsprechend. Der polnische Augenarzt Ludwik Lejzer Zamenhof entwickelte eine Kunstsprache, die er 1887 in einer Publikation vorstellte: das Esperanto. Die Idee war, eine Sprache zu schaffen, die einfach aufgebaut war und eine große Regelmäßigkeit aufwies. Obwohl die Idee bis heute Anhänger hat und es in vielen Ländern Esperanto-Clubs gibt (in Deutschland: Deutscher Esperanto-Bund), hat sich ein solches Konzept einer konstruierten Sprache nicht durchgesetzt. Zwar würde eine neue Sprache keine der bisher genutzten Idiome bevorzugen oder benachteiligen und so zu einem gleichberechtigten Kontakt zwischen den Völkern beitragen, woraus die Esperanto-Vertreter auch den humanistischen Anspruch ihres Vorhabens ableiten, aber Sprache ist offensichtlich mehr als die Verbalisierung von Piktogrammen.

Auf die Bedeutung der Sprache als Ausdruck der Verschiedenheit des Denkens weist, Wilhelm von Humboldt zitierend, Jutta Limbach hin. Die Jura-Professorin war nach ihrer politischen Karriere (als Justizsenatorin in Berlin) und der Übernahme des höchsten Richteramtes als Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts sechs Jahre lang die Präsidentin des Goethe-Instituts, dessen Aufgabe es ist, die deutsche Sprache und Kultur ins Ausland zu tragen. Mehrsprachigkeit, davon ist Limbach überzeugt, bringt intellektuellen Gewinn, fördert "die Lust, sich auf die Welt einzulassen" sowie die Offenheit für andere Geisteswelten.


Jutta Limbach, von 2002 bis 2008 Präsidentin des Goethe-Instituts (c)picture alliance

Auch Krista Segermann, emeritierte Romanistik-Professorin aus Jena betont, dass die Sprachenvielfalt sich positiv auf das interkulturelle Verstehen und die Verständigungsbereitschaft der Menschen auswirkt. Jede Sprache drücke eine bestimmte Kultur aus, weshalb eine Einheitssprache die "sprachlich-kulturelle Verstehensfunktion" nicht erfüllen könne. Krista Segermann plädiert daher für eine aktive Umsetzung der europäischen Mehrsprachigkeit, die nur erreicht werden könne, wenn man sich von bisherigen Mustern des Sprachenlernens in der Schule verabschiede.

Was bedeutet das für die Europäische Union? Diese funktioniert zurzeit in 24 Amtssprachen. Darin sieht auch Jutta Limbach ein Problem, weswegen sie sich für ein "institutionelles Sprachenregime" ausspricht. Damit ist gemeint, dass die Europäischen Union sich einigen müsse, einige wenige Sprachen - aber mehr als eine - zur Grundlage ihrer Arbeit zu machen. Dass eine solche Übereinkunft nicht leicht wird zu erzielen sein, deutet Jutta Limbach an. Die Sprache, die mehr als alle anderen als Muttersprache in der Europäischen Union benutzt wird, ist Deutsch; die Sprache, die die meisten in der EU mehr oder weniger gut beherrschen, ist sicherlich Englisch. Spanien und Frankreich können für sich in Anspruch nehmen, dass ihre Sprachen in erheblichen Teilen der Welt als Mutter- oder Amtssprache fungieren. Damit hätte man schon vier Sprachen, für die es gute Gründe gäbe, sie in ein institutionelles Sprachenregime einzubeziehen.

Sprache dient auch dem Zusammenhalt, sie ist in den meisten Staaten ein wichtiges Identifikationssymbol: Wir sind Deutsche, weil wir Deutsch sprechen - das ist eine unserer Gemeinsamkeiten.

Wie aber ist es dann um die europäische Identität bestellt? Hier wird oftmals genau gegenteilig argumentiert: Während wir im nationalen Rahmen sagen, dass (auch) die Sprache uns zusammenhält, hört man im europäischen Kontext den Slogan "Einheit in Vielfalt". Verbunden wird dieses Motto mit der Erklärung, unser europäischer Reichtum läge nicht zuletzt in der sprachlichen und kulturellen Vielfalt. Ist also Vielsprachigkeit genauso ein identitätsstiftendes Merkmal wie die Einsprachigkeit in den meisten Nationalstaaten?

In diesem Zusammenhang weist der Publizist Günter Buchstab, der bis 2009 die Wissenschaftlichen Dienste der Konrad-Adenauer-Stiftung geleitet hat, auf die Bedeutung von Symbolen hin. Sie sind eine Art non-verbaler Sprache und können von daher - als Flagge oder als Hymne oder auch als Währung - die nationalen Grenzen leicht überwinden und Menschen zusammenführen. Europäische Symbole können nach Buchstabs Auffassung den europäischen Einigungsprozess unterstützen, allerdings den Willen zur Einigung nicht ersetzen.

Die Europäische Union bekennt sich zur großen Zahl ihrer Amtssprachen und will auch weiterhin das Prinzip beibehalten, jedem Land freizustellen, "seine" Sprache mit in die EU zu bringen. Bislang haben lediglich Österreich, Zypern, Belgien und Luxemburg darauf verzichtet, eigene Sprachen zu Amtsprachen zu machen. Während in Österreich Deutsch, in der Republik Zypern Griechisch und in Belgien Niederländisch und Französisch gesprochen wird, gibt es in Luxemburg durchaus eine eigene Sprache, das Luxemburgisch. Allerdings haben die Luxemburger, die Französisch und Deutsch sprechen, darauf verzichtet, ihre Regional- zur europäischen Amtssprache zu machen. Auch die Iren bestanden bei ihrem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft 1973 nicht auf dem Gälischen, das im Land selbst nur von einer kleinen Minderheit für die tägliche Kommunikation genutzt wird. Erst als 2004 die Malteser ihre Sprache unbedingt repräsentiert sehen wollten, obwohl auf der Mittelmeerinsel das Englische gleichberechtigte Amtssprache und weithin Verkehrssprache ist, setzten auch die Iren ihre Ansprüche durch. Wenn die Beitrittszusagen für die restlichen Balkanstaaten sich erfüllen (Albanien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Montenegro, Serbien), wären wir bei 30 Sprachen, in die jedes Dokument übersetzt werden müsste.


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Allein die drei großen europäischen Institutionen, die Kommission, der Rat und das Europäische Parlament, beschäftigen rund 5.000 Personen im Übersetzungs- und Dolmetschdienst. Die Kosten für dieses Sprachenregime liegen bei rund einer Milliarde Euro pro Jahr. Das ist viel Geld, aber andererseits sind es auch nur zwei Euro pro Bürger. Dass die Kosten nicht deutlich höher liegen, hat damit zu tun, dass tatsächlich keineswegs mehr alle Dokumente und Publikationen in alle Sprachen übersetzt werden. Viele Schriftstücke und Internetpublikationen gibt es nur auf Englisch und Französisch. Selbst Deutsch, offiziell die dritte Arbeitssprache der Europäischen Institutionen, ist nicht annähernd gleichberechtigt vertreten. Daran, dass es gelingen könnte, sich innerhalb der EU auf zwei oder drei Amtssprachen zu einigen, darf gezweifelt werden. Ein Votum für die Arbeitssprachen, also Englisch, Französisch und Deutsch, dürfte am Widerstand der Italiener, Spanier und sicherlich auch Polen scheitern - und jeder anderen Konstellation ginge es ähnlich. So ist das Wahrscheinlichste, dass die EU sich weiterhin zur Vielsprachigkeit bekennt - und durch die Hintertür das Englische immer stärker die dominante Sprache werden wird. Unabhängig von der Regelung der europäischen Administration bleibt allerdings die Frage, wie wir uns zur Vielsprachigkeit in Europa verhalten. Sowohl Jutta Limbach als auch Krista Segermann plädieren sehr stark dafür, sich beim Spracherwerb nicht auf eine Fremdsprache - das wäre ja dann wohl das Englische - zu beschränken, sondern durch die Fähigkeit zur Kommunikation auch die Türen zu anderen Kulturen aufzustoßen. Zwei Sprachen neben seiner Muttersprache sollten eine gebildete Europäerin und ein gebildeter Europäer schon beherrschen. Diese Forderung ist nicht neu und auch nicht immer einfach zu realisieren. Gerade unsere Nachbarn aus Luxemburg oder den Niederlanden zeigen jedoch durch ihr eigenes Beispiel, dass eine solche Sprachbeherrschung keineswegs unmöglich ist.

Professor Dr. Stratenschulte, Leiter der Europäischen Akademie Berlin